Liebe Gemeinde!
Ich habe heute mal ein Fernglas mitgebracht. Ein Opernglas. Damit kann man etwas, das in der Ferne ist, heran holen. Jäger brauchen das um zu Gucken, ob da ein Wild zu sehen ist – und die müssen ein Reh und ein Wildschwein unterscheiden können – … Na gut, das sollte man auch ohne Fernglas können – aber gleichwohl ist ein Fernglas interessant – zum Beispiel für Ornithologen, wenn sie Vögelstimmen hören und dann mit dem Fernglas den Vogel im Geäst finden ohne ihn beim Gesang zu stören. Manchmal sind die Sänger kaum zu sehen, doch mit dem Fernglas kann man den Vogel genauer betrachten und bestimmen, was für eine Vogelart das ist. Übrigens: der Naturschutzbund hat jetzt alle Interessierten aufgerufen, hinaus in die Natur zu gehen bzw auch zu Hause zu notieren, welche Piepmätze sich so bei uns tummeln. Leider ist es so, dass die Zahl und Vielfalt der gefiederten Sänger abnimmt, weil sie keine geeigneten Lebensräume mehr finden. Ich war kürzlich bei einem Gemeindeglied zu Besuch, ein Herr, schon über 80 Jahre alt, der kennt sich supergut mit Vögeln aus. Wir haben uns unterhalten und er hat erzählt, wie er immer Rücksicht genommen hat auf der Wiese oder dem Acker. Weil er wußte, das zum Beispiel unter den Blättern bestimmter Pflanzen gern Vögel brüten. Er hat dann einen Stock an den Stellen anbrachte, wo Vögel am Boden brüteten, damit er die Nester nicht aus Versehen zertritt oder mit seinen Maschinen Schaden anrichtet. Also ein ganz sorgsamer Mensch. der darauf achtet, das die Vögel auch ihre Chance haben.
Ja, aber wie gesagt, man kann nicht nur Vögel beobachten sondern auch alle anderen komischen Vögel – und man sieht dann genau Details von jemanden, die Frage ist aber: sehen wir MEHR von dem Gegenstand oder dem Vogel oder dem Objekt, wenn man durchs Fernglas schaut – oder sehen wir weniger? Die Frage ist glaube ich garnicht so einfach zu beantworten. Wir sehen mehr Details, wenn wir das Fernglas schärfer stellen – wir holen das Objekt näher an uns heran. Aber im gleichen Zug, wie wir den Blick verengen auf eine bestimmte Nähe, ist die Umgebung ausgeblendet. Wir sehen also ein Detail, meinetwegen die Konturen der Federn – um beim Vogel zu bleiben, deren Färbung etc. aber wenn wir ganz nahe ran gehen, ist der Vogel als solcher nicht mehr sichtbar. Schon gar nicht seine Umgebung, in der er sich aufhält und lebt.
Ein anderes Beispiel: Manche Menschen brauchen eine Lupe, um lesen zu können. Das ist mühsam, denn meist sieht man nur das einzelne Wort aber den ganzen Text nicht. Wenn man weiter weg geht, dann sieht man das Ganze. Ein Abstand ermöglicht uns also, zwar nicht so sehr die Details zu sehen, dafür aber den Zusammenhang. Wenn wir den Mond sehen durch ein Fernrohr, dann können wir dort auf der Oberfläche sogar die Krater sehen, aber das Umfeld, also die Sterne, blenden wir dann aus. Wenn wir genau drauf zoomen, können wir bestimmte Einzelheiten erkennen, aber wenn wir weiter weg gehen, sehe wir mehr den Zusammenhang.
Der Wechsel zwischen dem Detail. das uns ja auch etwas sagt und dem Ganzen – er erst ermöglicht uns das Verständnis vom großen Zusammenhang.
Das gilt auch für uns selbst. Betrachten wir unsere Details, dann sehen wir nur ganz bestimmte Dinge, gehen wir weiter weg, sehen wir mehr von uns. Viele haben ja im Bad auch besondere Spiegel, Hohlspiegel, die Einzelheiten vergrößern. Da kann man dann zum Beispiel die Unreinheiten der Haut sehen und die Pickel – das ist immer ganz nett, aber das will man eigentlich garnicht sehen – und dann zupft man und drückt man an sich herum, aber dann schnell wieder weiter weg – und alles ist wieder in Ordnung.
Auch im übertragenen Sinne ist das so zu erleben. Wir sehen uns mal im Detail und bei größerem Abstand mehr den Zusammenhang.
Ich denke an viele Migranten, die jetzt zu uns gekommen sind. die meisten sind für uns noch Unbekannte. Wir sagen: das sind die Fremden. Die Flüchtlinge. Wir wissen kaum etwas von ihnen, und so ist unser Bild von ihnen allgemein. Alle scheinen irgendwie gleich aus zu sehen. Wir können noch keine Personen unterscheiden. Wir kennen zu wenig von ihnen.
Am Freitag Nachmittag hatten wir einen Mütter-Kind-Nachmittag bei uns in der Breite – viele sind gekommen, auch Onkels, Väter, Freunde. Wir haben uns erst einmal vorgestellt und unsere Namen genannt. und dann uns mit Zeichnen und Gesten verständigt. Ein paar konnten ganz gut Deutsch. Und so wurde es ein fröhlicher Nachmittag. Die Kinder haben gespielt und ich hab versucht, mir ein paar Namen einzuprägen. Mir wurde klar: Kennen wir die Leute nicht, sind sie für uns nur die Fremden. Eine indifferente Masse. Zommen wir aber ran, befasen wir uns also mit ihnen, werden aus der anonymen Menge plötzlich sehr konrekte Menschen, mit ihren Besonderheiten, ihrem Lächeln, ihren Gaben. Wir amüsieren uns über unsere Mißverständnisse…
Dadurch wird das Allgemeine, was ja manchmal nichts sagt, etwas sehr Konkretes. Aus dem Allgemeinen, dem Flüchtlingsstrom werden plötzlich sehr eigene Menschen: Sie und ich. Auch ich ermögliche diesen Menschen, mich konkreter wahrzunehmen. Vielleicht ist das ja der Prozeß, um einander besser verstehen zu lernen. Mir jedenfalls war dieser Nachmittag sehr aufschlussreich.
Ich habe gefragt, ob sie schon Deutsch lernen konnten – naja, bislang war da eher wenig Möglichkeit. Also hab ich auf Papier dies und jenes gezeichnet – ein Haus und dann die Begriffe dazu genannt: Dach, Fenster, Tür… etc. Und auch ein paar wichtige Sätze wie: ich suche einen Arzt oder: Wo finde ich eine Apotheke. Oder wann fährt ein Bus… Na, jedenfalls sah ich das Interesse, mehr solche Gelegenheiten zu bekommen um besser hier unser Land verstehen zu können und sich zurecht zu finden.
Ich erzähle das nur als Beispiel. Wir erleben Menschen anders, wenn wir sie an uns heran lassen als wenn sie weit weg sind. Je weiter weg, desto anonymer wird das Ganze, desto mehr wird daraus eine allgemeine Masse – und so reden wir dann auch über andere. Wir sagen: Die Deutschen, oder die Ausländer und der einzelne Mensch mit seinen Ecken und Kanten, mit seinen Gaben und Vorlieben etc. verschwindet.
Es ist doch ein interessantes Wechselspiel zwischen Nähe und Ferne. Wir entdecken Details – und vergessen dabei manchmal den Zusammenhang, sehen wir mehr den Zusammenhang, verschwimmen die Details.
Und so geht es uns auch. Wir schauen auf uns und beobachten an uns bestimmte Details oder Mängel oder Eigenschaften und sagen: Oh, das ärgert mich oder „das freut mich“ und verlieren auch bei uns selbst manchmal den Blick auf den Zusammenhang.
Zum Beispiel EIN Zusammenhang, den Gott uns sagt, ist: Du bist mein geliebtes Geschöpf! Wann hören wir diese freundliche Stimme Gottes, die uns das sagt? Sind wir nicht viel zu oft gefangen in Detail-Wahrnehmung oder allgemeiner, pauschalen Wahrnehmung? Und hören diese besondere Sichtweise Gottes kaum noch.
Wie wir uns selbst sehen, auf uns selbst schauen, das ist ein interessanter Aspekt, der unsere Verhaltensweise stark beeinflussen kann.
Ich hatte am Freitag nachmittag dann noch ein kleines Gespräch mit Jugendlichen, die in der Nähe von Rossmann gern zusammen sitzen. Ich fragte sie, was sie so machen, welche Interessen sie haben und habe sie auch zu unseren Kreativ-Angeboten eingeladen. Und da antwortet mir eines der jungen Mädchen: Wir können nichts. Wir können nur essen und eigentlich ist mit uns sonst nichts los. Ich dachte: meine Güte! Was für eine fast schon resignierte, negative Sicht auf sich selbst haben diese jungen Menschen. Sie erwarten von sich kaum etwas. Natürlich ist diese Sicht falsch. diese Jugendlichen haben wir wir alle Talente, sie können was, aber irgendwie hatten sie nicht die Chance, das auszuprobieren oder wurden nicht ermutigt, positiver von sich zu denken.
Sie trauen sich kaum etwas zu. Ich finde das fast dramatisch. Wenn Menschen von sich eine so schlechte Sicht haben, dass sie nichts können oder sich abgeschrieben fühlen oder sie eigentlich schon nichts mehr interessiert außer Essen und Trinken – das ist eine schlechte Sicht auf sich selbst und die Welt. ABER auf eine solche Sicht zu kommen, dafür gibt es auch immer Zusammenhänge! Die wir – wenn wir nahe ran gehen – hören können, aber wenn wir das mit etwas Abstand betrachten, erkennen wir möglicherweise auch die Zusammenhänge. Wo sind sie geboren, was haben sie erlebt, wie war ihre Kindheit, wie war das Wechselspiel zwischen Erfolg und Mißerfolg.
Ich gebe zu: In einer Gesellschaft, wo die Kinder fast selbstverständlich in die Fußstapfen der Eltern traten, war manches wohl einfacher. Heute ist das nicht mehr so und die Orientierungssuche für junge Menschen ist deutlich komplizierter geworden. Gerade deshalb ist die Verantwortung von Eltern als Menschen, an denen man sich als Kind orientiert,heute gewichtiger denn je.
Nun, wie ist das mit uns Christen? Welche Sicht haben wir denn als Christen auf uns? Was bewirkt die christliche „Sehhilfe“. Was macht sie mit uns Menschen?
Heute beginnt die ökumenische Gebetswoche für die Einheit der Christen. Da wird selbstkritisch deutlich: Wir beten für die Einheit und das tun wir schon seit 2000 Jahren, denn die Einheit in Christus war schon immer ein Gebetsanliegen und Wunsch der Kirchen. Aber: offenbar ist es einfacher, sich über Unterschiede zu definieren. Wir sind anders als die, sagen wir. Und ich kann es nur wiederholen: Das, was jetzt im Orient passiert, dass also unterschiedliche religiöse Strömungen im Islam gegeneinader kämpfen – das haben wir in Europa im 17.Jahrhundert durch. Und früher auch schon. Auch Christen haben sich gegenseitig die Wahrheit streitig gemacht und sich abgegrenzt. Leider gibt es das sogar noch heute, dass die eine christliche Gruppe die Kirchen der anderen Gruppe abbrennen. Es geht dabei also durchaus nicht nur um einen Konflikt zwischen verschiedenen Religionen.
Was Christen leiden, wurde bei einem Vortrag des kopisch-oprthodoxen Bischofs Damian deutlich, den er bei uns auf dem Konvent gehalten hat.
Ich fragte ihn, welche Netzwerke seine Kirche denn unterstützen. Seine Antwort: Ja, das Diakonische Werk und auch die EKD geben Unterstützung, allerdings eben auch sehr unterschiedlich gewichtet: Die evangelischen Glaubensbrüder und Schwestern erhalten das mit Abstand meiste an Zuwendungen, während die Orthodoxe Koptische Kirche eher wenig erhält.
Dafür mag es eine Logik geben, aber gerecht ist es nicht.
Hier in Deutschland leisten übrigens die Koptischen Christen vorbildliche Flüchtlingshilfe.
Davon zu erzählen würde jetzt aber zu weit führen. Mein Thema ist, was im Epheserbrief im 3.Kapitel steht: Der Verfasser des Schreibens sagt: „…Dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne und ihr in der Liebe eingewurzelt und gegründet seid. So könnt ihr mit allen Heiligen begreifen, welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe ist; auch die Liebe Christi erkennen, die alle Erkenntnis übertrifft, damit ihr erfüllt werdet mit der ganzen Gottesfülle.“
Damit ihr erfüllt werdet mit der ganzen Gottesfülle. Die Fülle des Daseins erkennen – das war der Ansatzpunkt, warum ich das Fernglas mitgenommen habe. Wie erkennen wir die Fülle von uns selbst? Wie passiert das.
In dem sehr dicht gedrängten Text kann der Verfasser nur stammeln. Ihm fehlen eigentlich die Worte. Aber er ist sich sicher: Das geht durch Christus. Also mit der „Sehhilfe“, wenn wir mit den Augen von Jesus Christus uns und die Welt anschauen. Dann erkennen wir die Fülle und den Reichtum nicht nur des Einzelnen sondern der ganzen Gemeinschaft auf dieser Erde, auf dieser Welt.
Diese „Sehhilfe“ wünsche ich uns als Christen. Das wir über dem Detail am einzelnen Menschen nicht den Gesamtzusammenhang vergessen und über den allgemeinen Zusammenhang nicht den Einzelnen übersehen.
Christus liebt uns wie wir sind, er sieht uns in aller Idividualität aber er sieht uns auch im Zusammenhang seiner Schöpfung als seine Kinder. Und so dürfen wir uns auch sehen. Amen.